Xxi. §. 5. Kreuzzug Wider die Wenden.
399
heit in den kirchlichen Lehren zu erlangen. Im Mittelalter nannte
man solche dialektische Theologen Scholastiker und ihre Ausgabe
war: jede kirchliche Lehre mit der größtmöglichen Schärfe und Gründ-
lichkeit festzustellen, gegen alle Einwendungen zu vertheidigen und mit haar-
spaltender Genauigkeit ihre Anwendung nach jeder Seite hin aufzuweisen.
Als Führer der langen, langen Reihe von Scholastikern des Mittelalters
stand dem Bernhard der berühmte Abälard gegenüber. Aber Abä-
lard war nicht so fromm als er gelehrt war, Deshalb hat er schwere
Demüthigungen erdulden müssen, und Bernhard wurde es nicht schwer,
ihn zu überwinden. Aber seine Schüler waren unendlich zahlreicher als die
Bernhard' s. Denn durch den genauen Verkehr Deutschlands mit dem
noch von alter Zeit her gebildeten Italien, mit den scharfsinnigen und ver-
schmitzten Griechen, mit den phantastischen und überschwänglichen Völ-
kern des Morgenlandes, Christen und Saracenen, war in fortgehender
Steigerung ein so gewaltiger Drang und Trieb nach eigner Weiterbil-
dung unter die Deutschen und ihre nächsten Nachbarn gekommen, daß
mit dem Beginn des zwölften Jahrhunderts wie aus einer geöffneten
Thür uns eine unabsehbare Schaar von Gelehrten und Schriftstellern,
von Dichtern und Sängern, von Künstlern und ausgezeichneten Män-
nern aller Art entgegentritt. Es ist die Vlüthezeit des Mittelalters, in
die wir eingetreten sind — die höchste Mannigfaltigkeit der Gaben,
Kräfte, Talente, Aemter, Würden, Trachten, Sitten unter der Alles
überschattenden Einheit der von Gott hoch erhobenen römischen Kircke
und des päpstlichen Scepters.
§. 5. Kreuzzug wider die Wenden.
Zu gleicher Zeit mit dem zweiten Kreuzzug wider die Sarace-
nen, der so unglücklich auslief, wurde noch ein anderer Kreuzzug un-
ternommen, der das weite Reich des Papstes wieder um ein bedeuten-
des Stück vergrößerte. Es ist schon früher erwähnt (S. 376), daß die
schönen Eroberungen und Stiftungen Heinrich' s I. und der Ottonen
zwischen Elbe und Oder unter den schwächeren Kaisern, besonders
unter Heinrich Iv. fast gänzlich wieder verfallen waren und daß
auch Polen und Böhmen immer nur in sehr zweifelhafter Abhängig-
keit vom deutschen Reiche standen. Polen war aber indeß, eben so
wie Böhmen, ein durchaus christliches Land geworden, hatte Bischöfe
und Erzbischöfe, Kirchen und Klöster und sorgte für Ausbreitung deö
Christenthums auch in denjenigen heidnischen Ländern, die es eroberte,
absonderlich in Pommern. Der Polenherzog Boleslav lud selbst
den deutschen Bischof Otto von Bamberg ein, mit ihm und unter-
feinem Schutz nach Pommern zu ziehen, um die reichen und lebens-
frohen Pommern zu bekehren. Wirklich gelang es dem Bamberger
Bischof und dem polnischen Herzog, die Kirche in Pommern wenig-
stens zu begründen. Dagegen die vom Kaiser und von den Sach-
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Extrahierte Personennamen: Bernhard Bernhard Heinrich_Iv Heinrich Polenherzog_Boleslav Otto_von_Bamberg Otto
400
Xxi. §. 5. Kreuzzug wider die Wenden.
senherzögen eingesetzten Markgrafen im Wendenland und die Erz-
bischöfe von Magdeburg hatten nun fast hundert Jahre hindurch zu-
gesehen, wie alle christlichen Stiftungen im Wenden lande zwischen
Elbe und Oder immer auf's Neue wieder von den empörten Heiden
vernichtet wurden, also daß auf dem rechten Elbufer nur gar wenig
Christen zu finden waren. Als nun Bernhard von Clairvaux
im Namen des Papstes Eugen die Deutschen zur Kreuzfahrt nach
Jerusalem aufforderte, antworteten mehrere norddeutsche Fürsten ganz
verständig: sie hätten Heiden genug in der Nähe zu bekämpfen und
brauchten deshalb nicht erst nach Asten zu ziehen. Dem frommen
Bernhard war solche Antwort höchst befremdend. Er hatte gar
nicht geglaubt, daß an den Grenzen, ja eigentlich im Schooße des
deutschen Reichs die Heiden seit Jahrhunderten von den christlichen
Fürsten in Ruhe gelassen wurden. Er strafte die Fürsten hart ob
solcher Säumigkeit und betrieb jetzt selbst die Unternehmung eines
Kreuzzuges gegen die heidnischen Wenden mit größtem Eifer. Die-
selben Gnaden und Segnungen wie den Kreuzfahrern gegen Jeru-
salem sollten denen zu Theil werden, die das wendische Kreuz näh-
men (1147). Es war ihrer eine ziemlich bedeutende Zahl, an der
Spitze der Herzog von Sachsen Heinrich der Löwe und dessen
Schwiegervater Herzog Konrad von Zähringen (dessen Besitzungen
im Elsaß, Baden, Schweiz und Burgund zu suchen sind). An 100,000
Streiter zogen mit ihnen. Sie theilten sich in zwei Haufen. Der
eine wandte sich gegen Niclot, den Obotritenfürst, dessen Reich an
dem Ufer der Ostsee entlang etwa von Lübeck bis nach Stralsund
reichte. Der andere zog von Magdeburg aus gegen die untere
Oder. Große Kriegsthaten sind freilich nicht geschehen; aber der
Hauptzweck des Zuges wurde erreicht. Der Schrecken über solch ein
gewaltiges, von kirchlichem Eifer erfülltes Heer war unter den Wen-
den so groß und wirkte so nachhaltig, daß überall das Christenthum
ohne Widerstreben zugelassen wurde. Ueberall wurden Kirchen und
Klöster, Domstister und Schulen neu gegründet oder wiederhergestellt;
Priester und christliche Ansiedler aus Deutschland kamen in's Land;
der Herzog von Sachsen und seine Grafen konnten ungestört und
mit fester Hand die christliche Herrschaft führen, und wenn auch lang-
sam, so ging doch Schritt vor Schritt das bisher so widerspenstige,
rohe, abgöttische Volk einer völligen Umwandlung entgegen. Der
letzte heidnische Tempel, der umgestürzt wurde, war der Tempel des
Svan tev i t auf der Nordspitze Deutschlands, zu Arcona auf Rügen;
er wurde 1169 von den Dänen zerstört.
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Extrahierte Personennamen: Bernhard_von_Clairvaux Eugen Bernhard Heinrich_der_Löwe Heinrich Konrad_von_Zähringen Konrad
Xxii. §. 7. Gottes Bußgericht in Deutschland. 447
Gnade schrieen. Wie es schon 100 Jahre früher in Italien und von
dorther auch in Deutschland Sitte geworden war, so vereinigten sich
auch jetzt wieder große Schaaren zu schweren Bußübungen nach der
Weise der damaligen Zeit. Mit entblößtem Rücken und verhülltem
Haupte gingen sie paarweise einher, und schlugen sich selber mit har-
ten Riemen dergestalt, daß das Blut auf den Boden herabfloß. Tau-
sende zogen so aus einer Stadt in die andere, geführt von Geist-
lichen mit Kreuzen und Rauchfässern. Aus den Straßen und in den
Kirchen lagerte die Menge, sich geißelnd, ihre Sünden bekennend,
Litaneien singend und um Erbarmen schreiend. Und wohl mochten
sie Ursache haben, sich also zu demüthigen, denn die Sünden der da-
maligen Zeit waren entsetzlich und schrieen gen Himmel. Wie konnte
es auch anders sein, da so lange kein Kaiser, kein König, keine allge-
mein anerkannte Obrigkeit dagewesen war, welche Recht und Gerech-
tigkeit nachdrücklich hätte handhaben können. Die Geistlichkeit, welche
der Rohheit und Zuchtlosigkeit unter dem Volke hätte wehren und
auf die Verbesserung der sittlichen Zustände hätte hinwirken sollen,
war selbst unglaublich tief gesunken. Die meisten Priester konnten
kaum lesen, lebten in offenbarer Hurerei, und waren Helden im Zechen.
Die Mönchs- und Nonnenklöster waren so voll Liederlichkeit und ge-
meiner Wollust, daß ehrbare Eltern anstanden, ihre Söhne oder Töch-
ter dahinein zu senden. Die Gottesdienste bestanden aus Nichts als
Messelesen und sonstigem tobten äußerlichen Werk. Vom Wort Got-
tes und Predigt war keine Rede. Nur die Bettelmönche und unter
diesen auch nur die Franciscaner, fuhren auch jetzt noch fort, sich seel-
sorgerisch und predigend umherziehend des armen Volkes anzunehmen.
Aber auch die Franciscaner waren in einer ärgerlichen Spaltung be-
griffen. Der größte Theil suchte sich gleich wie die Dominicaner von
dem Joche der Armuth loszumachen und die strengen Regeln des
Franciscus durchbrechend, sich die Genüsse des Reichthums wieder zugäng-
lich zu machen. Die strengere Partei war sogar von dem Papst in
den Bann gethan und in die gleiche Classe gesetzt mit den Brüdern
des gemeinsamen Lebens, den Begharden und anderen freien Vereinen,
welche nach Möglichkeit ein gottesdienstlich apostolisches Christenleben
wiederherstellen wollten und deshalb von der Geistlichkeit der Ketzerei
bezüchtigt wurden.
Fragen wir nun nach den Erfolgen jener schweren Heimsuchungen
Gottes, die jetzt nach 500 Jahren, wenn auch in abgeschwächter Form
wiederzukehren schienen, so müssen wir sagen, sie haben damals wie
jetzt wenig ausgetragen. Denn auch jene Flagellanten oder Buß-
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Extrahierte Personennamen: Franciscus
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Italien Deutschland Gottes
Xxii. §. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die Hussiten. 455
klagte unter der unerhörten maßlosen Geldgier der beiden Päpste, de-
ren jeder (namentlich aber der französische Papst) nur darauf bedacht
schien, durch alle rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Mittel Geld her-
beizuschaffen, theils um den eignen Lüsten zu fröhnen, theils um den
Gegner zu bekämpfen. Das schlug dem Faß vollends den Boden aus.
Auch die Franzosen wurden es müde, ihren Papst zu Avignon um
solchen Preis bei sich zu dulden. Sie wollten ihn zwingen, sich mit
dem römischen Papst zu vertragen. Aber von Vertragen kann unter
Päpsten nie die Rede sein. Lieber entfloh Benedict Xiii., der zu
Avignon auf Clemens Vii. gefolgt war, aus Frankreich nach Spa-
nien, und sprach von seinem Schloß von Perpignan, später von dem
einsamen Peniscola aus, den Bannfluch über die ganze Welt. Da
nun auf solche Weise der Sache nicht geholfen war, so kam man wie-
der auf die alte Forderung zurück, die schon früher von den französi-
schen Königen gegenüber dem Papst Bonifacius Viii. erhoben war,
nämlich, daß wie in alter Zeit wieder ein allgemeines Concilium ver-
sammelt werden müßte, und die gelehrten Theologen, namentlich die
Pariser, bewiesen weitläuftig und gründlich, daß nicht der Papst über
dem Concil, sondern das Concil als die Versammlung aller Bischöfe,
Aebte, Doctoren und Professoren der Theologie über dem Papst stünde
und von dem Concil die Heilung der kranken Kirche an Haupt und
Gliedern geschehen müsse.
§. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die
Hussiten.
Daß die Papstgewalt ein Nebel, die Lehre von der Untrüglich-
keit und Göttlichkeit der Päpste ein Unsinn, die Erhebung der geist-
lichen Gewalt über die weltliche ein Verderben beider sei, hatte die
katholische Christenheit durch das Schisma hinlänglich erfahren.
Man hätte meinen sollen, sie würde nun zu der Erkenntniß gekommen
sein, daß die Kirche, welche sich so ganz ihres geistlichen Charakters
entkleidete und in so schändliche Sünden und Spaltungen sich ge-
stürzt hatte, innerlich krank und faul sei und einer gründlichen innern
Reinigung bedürfe. Aber bis zu dieser Einsicht war nur eine sehr kleine
Zahl wahrheitsuchender Männer gelangt. Zuerst Wicleffe in Eng-
land, in dem von den Päpsten in der übermüthigsten Weise behandel-
ten und ausgesogenen Lande, wo jetzt König und Volk die Schwä-
chung der Papstmacht benutzten, um sich von einigen der entehrend-
sten Pflichten gegen die Päpste loszumachen, und sich von dem Pre-
diger und Professor Wicleffe beweisen ließen, daß das Papstthum
nicht eine göttliche, sondern eine menschliche Einrichtung >ei, daß die
Kirche gar kein sichtbares Haupt bedürfe und deshalb auch das
Papstthum unter Umständen wieder aufgehoben werden könne. Da-
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Xxi. §. 11. Kreuzzüge Wider die Ketzer.
417
unruhigen Gewissens, insonderheit aus dem demüthigen Forschen in
der heiligen Schrift sich immer lauter und allgemeiner solche Stim-
men erhoben, welche die ganze bestehende Kirche für besteckt, für wi-
derchristlich erklärten und mit Verwerfung aller gewohnten Formen
des Gottesdienstes und der kirchlichen Gemeinschaft sich in kleineren
Kreisen ihre eignen Gottesdienste, auch wobl ihre eignen Lehren zu-
recht machten. Sie thaten das nach dem Maße ihrer Erkenntniß, und
da die unter den verschiedenen Gegnern der herrschenden Kirche sehr
verschieden war, so wichen auch die Forderungen, Lehren und gottes-
dienstlichen Gebräuche der Einzelnen bedeutend von einander ab. Schon
von Alters her hatte es innerhalb der abendländischen Kirche viel
fromme Gemüther, viel erleuchtete Männer gegeben, welche freimüthi-
ges Zeugniß abgaben gegen die Verderbniß der Geistlichkeit, gegen
die Verwerflichkeit einzelner kirchlicher Lehrbeftimmungen, gegen die
falsche Richtung und Verweltlichung des ganzen kirchlichen Systems.
Aber eine weitere Ausbreitung solcher gegenkirchlichen Behauptungen,
die Bildung besonderer Gemeinschaften, die sich geradezu von der kirch-
lichen Praxis lossagten, trat doch eigentlich erst seit dem zwölften Jahr-
hundert hervor. Da war man durch die Kreuzzüge und den ander-
weitigen regen Verkehr mit dem Morgenland bekannter geworden, mit
den aus alter Zeit noch in den griechischen Ländern vorhandenen
Irrlehren; das neue, kühne, hochfliegende Wesen dieser muthigen und
ausdauernden Feinde der bestehenden Kirche erwarb ihnen besonders
in Italien und im südlichen Frankreich und am Rhein entlang eine
unerwartete Theilnahme. Katharer, Reine, nannten sie sich, und
im Allgemeinen können selbst ihre Feinde ihnen das Zeugniß nicht
versagen, daß ihr Wandel reiner und heiliger gewesen, als er durch-
schnittlich innerhalb der Kirche zu finden war. Aber ihre Lehren
waren zum Theil ganz ungeheuerlich und widersinnig. Man fand
Leute unter ihnen, die zwei Götter glaubten, einen guten und einen
bösen, oder die Welt für ungcschaffen und ewig, oder das ganze
Weltall für Gott erklärten, oder die sich selbst dem Sohne Gottes
gleichftellten oder im alleinigen Besitz des heiligen Geistes zu sein
Vorgaben. Daß Päpste und Bischöfe, Priester und Mönche gegen
solche heillose Jrrthümer zu Felde zogen, war ja recht und gut, wenn
sie es nur mit dem Wort der Wahrheit und dem Schwert des Gei-
stes gethan hätten. Aber schlimmer wurde es, als zu Papst Jnno-
.cenz Iii. Zeiten eine neue Secte sich ausbreitete, die Waldenser,
die ganz und allein sich auf das Wort Gottes stützten, und nur das
wollten als recht und wahr gelten lassen, was in der heiligen Schrift
v. Rohden, Leitfaden. 27
TM Hauptwörter (50): [T27: [Kirche Luther Lehre Kloster Jahr Bischof Schrift Papst Reformation Wittenberg], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
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Xxii. §. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die Hussiten. 457
Das zweite zu Kostnitz, 1415—18, saß drei Jahre und meinte ein
Großes gethan zu haben, da es den mit Lastern und greulichen Ver-
brechen wie mit einem unflätigen Gewand überkleideten Papst Jo-
hann Xxiii. absetzte und die beiden anderen Päpste zur Abdankung
bewog. Aber wie wenig es selbst in der Wahrheit stünde, bewies
das Concil in jammervollster Weise dadurch, daß es den Zeugen der
Wahrheit, Johann Huß, elendiglich als einen Ketzer verbrannte.
Das dritte Concil zu Basel, 1431—49, saß gar achtzehn Jahre.
Aber obgleich es eine Menge heilsamer kirchlicher Gesetze zur Abstel-
lung der gröbsten Uebelstände gab, fand cs doch kein Heilmittel wi-
der den Hauptschaden. Es gerieth vielmehr in Zerwürfniß mit dem
Papst, in Zerwürfniß mit sich selber und mit einem großen Theil der
Christenheit, und trat, nachdem es in den letzten Jahren eine kläg-
liche Rolle gespielt, mit Schimpf und Schande wieder vom Schau-
platz ab.
Das erste Concilium, zu Pisa, hatten die Cardinäle ausgeschrie-
den und zwar die römischen und französischen Cardinäle in Gemein-
schaft, denn es lag ihnen wirklich daran, die Einheit und dadurch die
Macht und den Einfluß des Papstthums wiederherzustellen. Nachdem
sie nun zu Pisa den Papst Alerander V. gewählt hatten, betrug
der sich sogleich wieder als Herr des Concils, löste es auf und tröstete
die erschrockenen Reformfreunde mit der Aussicht auf ein bald zu beru-
fendes neues Concil, wo die Reformation der Kirche sollte in Bera-
thung gezogen werden. Er wußte nur zu gut, daß die Leute, die in
Pisa versammelt waren, auch keine Heilige seien, und kannte die Ränke
und Schleichwege sehr genau, durch die man bei ihnen Vieles und Alles
durchsetzen konnte. Als dann nach Alepa nder's Tode 1410 der
Cardinal Balthasar Cossa, einer der verrufensten und schändlich-
sten Menschen, Papst geworden war (er nannte sich Johann Xxiii.),
ward er zwar durch das Drängen des Kaisers Siegmund, durch
die lästigen Anforderungen der Pariser Universität und durch den an-
dauernden Streit mit den anderen beiden Päpsten gezwungen, das Con-
cil nach Coftnitz zu berufen, aber er that es mit der Absicht und in der
Hoffnung, auch dort Alles in eine bloße Spiegelfechterei zu verkehren und
die Versammlung so bald als möglich wieder aufzulösen. Das gelang
ihm nun zwar nicht. Zu gewaltige Schaaren von gelehrten und ge-
wandten Geistlichen und Laien waren dort aus allen christlichen Ländern
zusammengeströmt (an 80,000 Menschen), die nicht so leicht mit sich
umspringen und sich wieder nach Hause schicken ließen. Der Kaiser
Siegmund in aller Pracht seiner glänzenden äußern Erscheinung
hielt dort seinen Hof und die angesehensten deutschen Fürsten mit ihm.
Gesandte aus allen Ländern, aus Griechenland und aus Schottland,
aus Schweden und aus Cypern, aus Portugal und aus Rußland wa-
ren mit ihrem zahlreichen Gefolge erschienen. Weiter aber lagerte auch
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Extrahierte Personennamen: Johann_Huß Johann Alerander_V. Balthasar_Cossa Johann_Xxiii Johann Siegmund Siegmund
474 Xxii. §. 15. Innerer Verfall des Papstthums.
und Aberglauben war Thor und Thür geöffnet, und die „frommen
Erfindungen" nahmen kein Ende. Der Gottesdienst wurde all-
malig zum leeren Gepränge eines priesterlichen Opferdienstes. In
unerhörter Weise wurden die Messen vervielfältigt und in den Augen
des Volkes gehoben, damit die Priester desto größer» Gewinn davon
hätten. Noch reichern Ertrag brachte die neue Erfindung der Ab-
laßzettel, wonach man für beliebige Preise eine beliebige Anzahl Sün-
den bezahlen und eine größere oder kleinere Quantität der Höllen-
strafen abkaufen konnte. Die gelehrten Theologen jener Zeit, die
Scholastiker, wußten jede noch so widersinnige Behauptung der Kirche
durch Vernunftbeweise zu begründen und verstiegen sich in die unbe-
greiflichsten Behauptungen. Die Lehre vom Fegfeuer, vom Schatz der
guten Werke, über welchen die Kirche zu disponiren habe, vom Blute
Christi, welches in der Hostie oder dem verwandelten Leibe Christi
mit enthalten sei, so daß der Kelch beim Abendmahl nicht vertheilt
werden dürfe; die Lehre von der unbefleckten Empfängniß Mariä
und ihrer mütterlichen Gewalt über den Herrn Jesus im Himmel,
die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche, von der Heiligkeit des
kirchlichen Amtes trotz aller sittlichen Gemeinheit der priesterlichen
Personen, die Lehre, daß die bedingungslose Unterwerfung unter die
Gebote und Entscheidungen der Kirche der alleinige Weg sei, um in
den Himmel zu kommen — wozu konnte dergleichen anders dienen,
als zur Verwirrung der Gemüther und zur Entsittlichung der unwis-
senden Menge? .Woher hätten die richtigeren Begriffe, woher bi-
blische Klarheit und Erkenntniß ihnen kommen sollen? Die Predigt
war so gut wie ausgestorben. Die meisten Pfarrer konnten nicht ein-
mal predigen; und wo sie es noch thaten, da tischten sie ihren Zu-
hörern die elendesten Fabeln auf, erzählten die widersinnigsten Legen-
den und Wundergeschichten; oder wo sich etwa noch ein Rest schola-
stischer Gelehrsamkeit bei ihnen vorfand, da verstiegen sie sich zum
Theil in die unfruchtbarsten Probleme und unverständlichsten Lehrsätze,
von denen weder sie selbst noch das Volk einen Eindruck auf das Herz
gewinnen konnten. Sah aber die Gemeinde auf das Leben seiner
Geistlichen, so erblickte sie mit geringen Ausnahmen einen großen
über die ganze Kirche ausgebreiteten Sündenpfuhl. Das unselige
Cölibatsgesetz hatte die Unzucht in allen ihren Formen zu einer ver-
meintlichen Nothwendigkeit gemacht. Die Kleriker suchten ihre Wol-
lustsünden nicht einmal mehr zu verbergen, sie waren die schlimmsten
Verführer ihrer weiblichen Gemeindeglieder. Auch die Klöster, so-
wohl Mönchs- als Nonnenklöster, waren anerkanntermaßen die Haupt-
TM Hauptwörter (50): [T27: [Kirche Luther Lehre Kloster Jahr Bischof Schrift Papst Reformation Wittenberg], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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Extrahierte Ortsnamen: Christi Christi Empfängniß_Mariä
Xxii. §. 15. Innerer Verfall des Papstthums. 475
sitze der schnödesten Unzucht, sowie sie zugleich die Hochschulen der
gemeinsten Gewinnsucht, des schlauen Betrugs, der unverschämten Ehr-
sucht und Herrschsucht waren. Immer von Neuem hatte man angefangen,
die Klofterwirthschaf tzu reformiren, andere Klosterregeln, andere Orden
hatte man in's Leben gerufen; aber ohne die Zucht und Klarheit des
göttlichen Wortes waren sie alle nach und nach in dasselbe sittliche
Verderben hineingerathen. Weder jene Bahnbrecher Gregor's Vh.,
die eifrigen Cluniacenser, noch Norbert's Prämonstratenser, noch
die Cistercienser des heiligen Bernhard, weder die Franciscaner noch
die Dominicaner, einen so ehrenwerthen Anlauf auch manche von
ihnen nahmen, konnten die sittliche Verwilderung von sich fern halten.
Ueber allem diesen Moder und Elend eines faulenden Kirchen-
wesens thronten die Päpste in ihrer Herrlichkeit zu Rom. Man
sollte meinen, der Jammer über die vom Scheitel bis zur Fußsohle so
arg verunstaltete Christenheit, die fast keine Spur der ursprünglichen
bräutlichen Schönheit mehr durchscheinen ließ, würde ihr Herz auf's
Tiefste verwundet, würde ihre Augen zu Thränenquellen gemacht haben.
Aber daran dachten sie nicht. Macht und Herrlichkeit, Hoheit und
Ehre, Reichthum und Genuß, das war es, wonach die Seele der
allermeisten Päpste dürstete; sie wollten die Herren der Welt sein,
nicht, wie sie sich zu nennen wagten: „Knechte der Knechte Christi."
Je eifriger ihnen seit dem Avignonschen Exil und dem päpstlichen
Schisma ihre unumschränkte Gewalt bestritten wurde, je heftiger sich
die Landesfürsten, die allgemeinen Concilien, die Pariser gelehrten
Redner, die franciscanischen Minoriten und so viele Stimmen aus
dem Volke erhüben wider die göttliche Ehre, die sie für sich bean-
spruchten, desto eifersüchtiger, desto unverschämter, desto gewaltsamer
wurden ihre Anmaßungen. Mit Feuer und Schwert erwehrten sie
sich der Ketzer, die ihre Autorität in Zweifel zogen, die Bannflüche
und Jnterdicte, die Inquisitionen und Scheiterhaufen folgten sich im-
mer rascher und schonungsloser. Wo es mit Gewalt nicht möglich
war, da wurden durch Geld, durch List, durch augenblickliche Zuge-
ständnisse die widrigen Stimmen zum Schweigen gebracht. Nicht die
würdigsten Geistlichen, sondern die ergebensten Anhänger setzten sie
auf die Bischofsstühle, in die kirchlichen Aemter; nicht Seelen zu ge-
winnen, sondern Geld zu gewinnen für sich und für die päpstliche
Casse, war ihre Aufgabe. Immer neue Abgaben wurden der Chri-
stenheit angesonnen; alle Länder durchschwärmten die Legaten des
Papstes, nicht um die kirchlichen Verhältnisse zu ordnen, sondern um
sie zu verwirren, um die Eingriffe der päpstlichen Allgewalt in alle
TM Hauptwörter (50): [T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T27: [Kirche Luther Lehre Kloster Jahr Bischof Schrift Papst Reformation Wittenberg]]
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478 Xxir. §. 15. Innerer Verfall deö Papstthums.
Vollendung sehr ausführlich in Gottes Wort dargestellt stnd, dagegen
die durch die Reformation erneuerte Christenheit eigentlich nirgend er-
wähnt wird. Selbst die Thatsache der Reformation, die doch unseren
Augen als eine der bedeutendsten, ja die bedeutendste Epoche in der
Geschichte der christlichen Kirche erscheint, wird von der Weissagung
nur mit so leisen Zügen angedeutet, als ob durch sie gar nicht ein
so gewaltiger Umschwung herbeigeführt sei. Zwar sie sind nicht
vergessen, die jungfräulichen Seelen, die als heiliger Same des
ausgearteten Weibes kämpfen wider den Drachen, und „den
Sieg behalten hatten an dem Thiere und seinem Bilde und seinem
Maalzeichen und seines Namens Zahl." Wir hören auch den Geister-
ruf erschallen: „Gehet aus von ihr, mein Volk, daß ihr nicht theil-
haftig werdet ihrer Sünden, auf daß ihr nicht empfanget etwas von
ihren Plagen." Allein auch das erscheint mehr als ein Fortgehendes,
sich durch längere Zeiträume öfter Wiederholendes, als eine einmalige
zu einem bestimmten Bruch und zur Entscheidung führende Thatsache.
Denn so schmerzlich für uns auch das Zugeständniß ist, so dürfen wir
es uns doch nicht verhehlen, daß auch durch die Reformation noch kei-
neswegs eine apostolische Erneuerung und Läuterung der Christenheit
herbeigeführt ist, daß die Masse der protestantischen Christenheit auch*
heute noch, und gerade recht heut zu Tage, von dem alten Hurenwesen,
von Abfall und Lästerung eben so erfüllt ist, wie die katholische
Welt, daß auch auf unserer Seite nur eine verhältnißmäßig kleine Zahl
es ist, welche die jungfräuliche Reinheit apostolischer Zeiten als ihren
Schmuck und Siegel aufweisen kann. So hoch wir also auch das Gottes-
werk der Reformation zu preisen haben, als das Mittel, durch
welches uns und vielen Tausenden das Licht wieder aufgegangen ist in
der Finsterniß, so müssen wir doch sagen, daß im Großen und Ganzen
das Verhältniß der Christenheit zum Herrn wesentlich dasselbe geblie-
den ist.
Es wiederholt sich, wie schon öfter bemerkt ist, die Geschichte des
israelitischen Gottesstaates in der Geschichte der christlichen Kirche. Auch
in Israel gab es einst eine glänzende theokratische Herrschermacht, der
alle Könige der Welt Geschenke brachten, auch dort gab es geistliche
Hurerei und Abfall, der die Stimme der Propheten nicht wehren konnte;
auch dort erfolgte ein Schisma und eine babylonische Gefangen-
schaft, wie Luther von einer babylonischen Gefangenschaft der Kirche
zu schreiben wußte. Aber eine neue Zeit brach an. Ein kleiner Rest
des Gottesvolkes kehrte wieder nach Jerusalem, erbaute daö zertrüm-
merte Gotteshaus, hielt sich wieder zum Gesetz und Zeugniß, gab den
von Gott gesandten Propheten die Ehre, kämpfte muthig gegen die
feindlichen halbheidnisch gewordenen Nachbarn, und behielt schließlich
den Sieg. Aber wie ging es weiter? Pharisäer und Sadducäer stan-
den bald wider einander, gleichgültig oder fanatisch stand die Menge
umher. Als der antichristische Ep ip Han es herein brach, fielen ihm
Hirten und Heerden mit Haufen zu, und nur ein sehr geringer Bruch-
theil war es, der widerstand bis auf's Blut und sein Leben reicht lieb
hatte, wo es galt, das ewige Leben zu gewinnen. Das ist, soweit
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Xxiii. §. 1. Die Vorarbeiter und Bahnbereiter der Reformation. 479
bis jetzt die Thatsachen reichen, die weissagende Geschichte auch unserer
Kirche seit der Reformation.
Xxiii. Die Zeiten der Reformation.
Motto: Das Licht gehet wieder auf in der Finsternix.
§. I. Die Vorarbeiter und Bahnbereiter der
Reformation.
Wir kennen sie schon, jene stillen Kreise „der Uebrigen von dem
Samen des Weibes" (Apok. 12, 17), in welche wie in eine Brüder-
gemeinde die wahre Herzensfrömmigkeit sich geflüchtet hatte, die im
setzten Jahrhundert vor der Reformation aus dem öffentlichen und
kirchlichen Leben verscheucht schien. In ganz besonderm Glanze tritt
uns noch einmal an der Schwelle der Reformation jener mystisch
praktische Verein der Brüder des gemeinsamen Lebens ent-
gegen, denn dessen edelste Blüthe, der theure Gottesmann Thomas
von Kempen mit seinem nie genug zu empfehlenden Büchlein von
der Nachahmung Christi, ist nur zwölf Jahre vor Luth er's Ge-
burt gestorben. Da ist gesunde und nahrhafte Speise für die Seelen,
Katholiken wie Protestanten gleich schmackhaft und heilsam, denn fern
von allem Formelkram, von allen Aeußerlichkeiten und Zwischenpersv-
nen steht hier der Christ unmittelbar und unverhüllt dem heiligen und»
väterlichen Auge seines Gottes gegenüber. Thomas und seine zahl-
reichen Freunde und Geistesgenossen hatten ihr Wesen am nordwest-
lichen Ende Deutschlands, am Niederrhein. Um dieselbe Zeit aber
hatte auch am südöstlichen Ende schon halb in den slavischen Landen
der gottselige Verein der mährischen Brüder den ewigen Grund
gefunden, da sie mitten unter allen Leiden dieser Zeit den starken An-
ker ihres Glaubens und ihrer Hoffnung einschlagen konnten. Und
wiederum tief im Süden, schon über die Grenzen Deutschlands hin-
aus, begegnet uns in den Alpenthälern Savoyens die stille und
gottselige Schaar der Waldenser, die ebenfalls unter blutigen Mar-
tern und Todesschrecken sich erbauet hatte auf ihren allerheiligsten,
wahrhaft evangelischen Glauben. In der Mitte Deutschlands aber
und weit nach allen Seiten sich verbreitend finden wir den noch nicht
lange wieder erneuerten Orden der Augustiner, der sich wiederauf
die uralten Lehren seines Patrons, des Kirchenvaters Augustinus,
besonnen hatte und den Satz von der freien Gnade Gottes in
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Extrahierte Personennamen: Thomas
von_Kempen Thomas Kirchenvaters_Augustinus
Extrahierte Ortsnamen: Christi Deutschlands Niederrhein Deutschlands Savoyens Deutschlands Gottes